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Der Fall der Woche: Bedrohtes Urvolk

Das Urvolk

Nehmen wir ein Urvolk als Beispiel. Dieses Volk lebt noch als Jäger und Sammler und besitzt eine elementare Steinzeit-Technologie. Es lebt im Wald (sagen wir z. B. im Amazonas) und besitzt Waffen aus Holz und Stein, die in erster Linie für die Jagd verwendet werden, aber auch gelegentlich, um sein Territorium zu verteidigen. Das Volk hat keinen anerkannten Staat und versteht nichts von Staaten und Gesetzen. Es hat seine eigene Kultur, die mündlich weitergegeben wird. Es hat Rituale und eine totemische Religion, die ihm ermöglicht, die Blutverwandtschaft und die sexuellen Partnerschaften zu regeln. Für dieses Volk ist Eigentum auf die eigene Waffe und Werkzeuge beschränkt. Jede andere Form des Eigentums ist diesem Volk unbekannt. Im Krieg gegen andere Stämme, zur Verteidigung des eigenen Reviers, sind Grausamkeiten in der Regel völlig ausgeschlossen, weil dieses Volk eher das Ziel des Erhalts als das der Vernichtung verfolgt. Allerdings pflegen diese Menschen als Ritual, einen Körperteil eines der getöteten Feinde zu essen, um sich dessen Kraft zu bemächtigen. Also sind sie auch Kannibalen.

Die Firma

In der Nähe des Gebiets, das dieses Volk als sein natürliches Gebiet betrachtet, arbeitet eine Firma, die Bäume fällt, um Papier für Schulbücher zu erstellen. Die Firma ist als Non-Profit-Organisation angelegt. Dort arbeiten zum Teil auch Freiwillige, deren Motivation es ist, billige Schulbücher für Kinder aus armen Familien zu erstellen. Das Ziel der billigen Bücher ist jedenfalls das offizielle Ziel, und daran glauben die meisten Mitwirkenden und Mitarbeiter.

Da die Aktivitäten der Firma immer wieder in das Gebiet des Urvolkes eindringen, gibt es immer wieder Attacken von diesem Volk auf die Mitarbeiter sowie auf die Werkzeuge und Maschinen, die die Bäume fällen und abtransportieren. Eine Kommission aus Anthropologen und Soziologen arbeitet im Namen des Staates, in dem sich dieses Gebiet nach internationalem Recht befindet, um eine Vereinbarung mit diesem Volk zu treffen. Die Vertreter dieses Volkes stellen allerdings eine einzige Bedingung: Das ist ihr Gebiet, und wer dort hingeht und die Ressourcen zerstört oder wegnimmt, wird mit Krieg rechnen müssen. Denn für sie ist der Staat, in dem sich das Gebiet befindet, ein völlig nicht-existierender Begriff. Sie sind allerdings offen für Menschen, die das Gebiet und seine Ressourcen nicht verbrauchen und nicht zerstören.

Aus Sicherheitsgründen und zum Schutz der Mitarbeiter hat die Firma einen Sicherheitsdienst beauftragt, der auch mit Waffen die Arbeiten schützen soll. Die Mitarbeiter der Sicherheitsfirma sollen auf die Mitglieder des Urvolkes schießen, falls diese versuchen, die Arbeiten zu stoppen oder die Mitarbeiter zu attackieren bzw. die Werkzeuge zu zerstören.

Die zivile Gesellschaft

In der Welt bilden sich zwei politische Lager.

Auf der einen Seite gibt es eine Reihe kleinerer Organisationen, die einen sofortigen Abzug der Firma aus dem Gebiet verlangen, um diesem Volk sein Existenzrecht zu gewährleisten. Sie sagen, dass das erstellte Papier billig ist, einfach weil das Holz geraubt wird, und dass die Firma ein anderes Gebiet oder auf Holzwirtschaft setzen soll, um faire Preise für das Papier zu erzielen. Außerdem weisen sie darauf hin, dass dem Urvolk oft Versprechungen gemacht worden sind, die dann doch aufgrund dringender Notwendigkeiten (z. B. Überflutungen, unerwartet hoher Bedarf, Anbau von Siedlungen für die Mitarbeiter usw.) verletzt wurden. Somit wäre schon seit Langem jene Vertrauensbeziehung von Seiten der Firma eigentlich schon längst verletzt worden.

Auf der anderen Seite steht die Mehrheit der zivilen Gesellschaft. Diese behauptet, dass das Ziel dieser Firma – eine billige Schulbildung zu ermöglichen – ein sehr hoher Wert für die Menschheit ist. Zum Teil wird das Existenzrecht dieses Volkes auch anerkannt. Diese Meinung der Zivilgesellschaft beharrt darauf, dass auch dieses Volk kompromissbereit sein sollte und an diesem Ziel mitwirken soll. Andere Teile der Zivilgesellschaft allerdings weisen darauf hin, wie unzivilisiert dieses Volk ist, und dass man Praktiken wie Kannibalismus auf jeden Fall verbieten und eventuell bestrafen sollte. Es sei doch auch ein wichtiger Beitrag der zivilisierten Teile der Welt, diese unsinnigen Vorstellungen und Rituale dieses Volkes in die Geschichte der Menschheit für immer zu verabschieden.

Das Ereignis

Nach mehreren Vorfällen, in denen die Firma in das Gebiet eingedrungen ist und heilige Stätten zerstört hat, wurde durch den bewaffneten Sicherheitsdienst ein Mitglied des Volkes getötet. Denn er hatte aus Wut einen Mitarbeiter der Firma während seiner Arbeit auf seinem Traktor attackiert. Als Folge dieser Tötung organisiert das Volk einen verzweifelten Versuch, die Firma endgültig aus dem Gebiet zu vertreiben.

Über Nacht dringen einige bewaffnete Krieger des Urvolkes in das Camp ein, wo die Mitarbeiter der Firma schlafen. Ein Haus wird in Brand gesetzt, in dem 12 Mitarbeiter schlafen, die dem Brand nicht entkommen können und sterben. Einige Mitglieder des Sicherheitsdienstes werden ebenfalls im Schlaf überrascht und getötet. Eine freiwillige Mitarbeiterin der Firma, die gerade ihr freiwilliges soziales Jahr dort absolviert, wird von den Kriegern aus ihrem Zelt geholt und weggebracht. Am nächsten Tag findet man ihre Überreste neben einer Feuerstelle, wo die Krieger des Urvolkes ihren Erfolg gefeiert und die Frau kannibalisch geopfert haben.

Die Reaktionen

Die Zivilgesellschaft reagiert empört und erschrocken vor dieser ungeheuren Gewalt. Sie billigt eine sofortige und beispiellose Reaktion der Firma und des Sicherheitsdienstes gegen die Mitglieder des Urvolkes. Es wird angenommen, das Urvolk war in seiner Mehrheit mit diesem Anschlag einverstanden und dass sie die kannibalische Praxis gefeiert haben. Es wird dargestellt, wie die junge Freiwillige lebendig ins Feuer geworfen wurde, nachdem sie von allen Männern des Volkes vergewaltigt worden war. Es wird geklärt, dass in der Baracke, die in Brand gesetzt wurde, auch Kinder geschlafen haben sollen und dass die Attentäter die Ausgangstüren blockiert haben, um die Opferzahl zu maximieren. Das Volk wird daher in seinem Gebiet verfolgt, gejagt und massenhaft getötet. Durch ihre besseren Kenntnisse des Gebiets erlangen allerdings einige Mitglieder des Urvolkes eine unerwartete Resistenz. Jedoch werden alle Maßnahmen gebilligt, die im Prinzip zur kompletten Auslöschung des Volkes führen könnten.

Obwohl dieser Konflikt allen sehr bekannt war, war er in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr so präsent. Jetzt jedoch, nach diesem Anschlag und der darauf folgenden Reaktion, ist die Wahrnehmung in allen Teilen der Zivilgesellschaft extrem gestiegen. Viele Leute fragen sich, wie so etwas passieren konnte. Wieso so eine große Gewalt?

Die kleineren Organisationen wettern, dass nach wie vor das Gebiet diesem Urvolk gehört und dass die Holzfirma und ihr Sicherheitsdienst die Schuld an dem Massaker tragen. Obwohl sie gegen die Tötung von Zivilisten sind, legen sie Wert darauf, dass das Territorium diesem Volk gehört und dass die Firma die Bedingungen des Urvolkes zuerst annehmen muss, bevor sie mit den Arbeiten weitermachen kann. Auf der anderen Seite seien immer wieder Anschläge vom Sicherheitsdienst gegen Mitglieder des Urvolkes passiert, dem eine lange Reihe von Schocks, Einschränkungen und Gewalt zugefügt worden ist. Diese Organisationen werfen der Mehrheit der Zivilgesellschaft vor, einen Völkermord zu begehen bzw. zu unterstützen und zu billigen. Sie werfen der Zivilgesellschaft vor, sie stelle sich moralisch über die Moralvorstellungen des Urvolkes und versuche, ihre eigenen Interessen – seien sie kulturelle oder wirtschaftliche – zu verteidigen. Das Problem des Gebiets sei schon seit langem bekannt gewesen. Die Firma habe es auch versäumt, ihre Mitarbeiter zu schützen, indem sie die Mitarbeiter zu unerlaubten Tätigkeiten aufgefordert hat. Letzten Endes seien die Menschen des Urvolkes nicht bereit, gegen Zivilisten vorzugehen, wenn sie sich nicht bedroht fühlen. Es sei außerdem nicht disputabel, dass das Urvolk ein Recht zum bewaffneten Widerstand hat und nur freiwillig die Vorteile der Zivilisation anerkennt und eventuell aufnimmt. Eventuell – so argumentieren die Mitglieder der kleineren Organisationen – könnte der erfolgreiche Kampf dieses Volkes ein Beispiel für alle unterdrückten Völker werden, die sie nachahmen und gegen ihre Unterdrücker für ihre Freiheit und eine Welt ohne Unterdrückung kämpfen werden. Nur so können sie die Schranken ihrer primitiven Kultur anerkennen, wenn sie die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, wie sie mit dem Rest der Welt leben wollen.

Die Zivilgesellschaft wirft den kleinen Organisationen vor, mit ihrer Einstellung verteidigen sie den Kannibalismus. Denn sie würden selbst von den Menschen des Urvolkes gefressen, wenn sie dort gelangen würden. Selbst wenn sie dort wären, um ihnen zu helfen, würden sie als Feinde betrachtet und lebendig verbrannt. Es sei doch ein großer Fortschritt der modernen Gesellschaften, dass man den Kannibalismus abgeschafft hat. Außerdem habe man dem Urvolk viele vernünftige Vorschläge gemacht, die sowohl zu seinem Schutz als auch zur Fortsetzung des höheren Ziels der Firma – billige Schulbücher – geführt hätten. Da die Menschen im Urvolk ungebildet und so primitiv sind und sich wie Tiere verhalten, haben sie diese guten Vorschläge aus reiner Ignoranz nicht akzeptiert. Sie verdienen es, wie menschliche Tiere behandelt zu werden, geschlachtet und vertrieben.

Der Ist-Zustand

Die Vorwürfe der systematischen Vergewaltigung der freiwilligen Mitarbeiterin und die Tötung von Kindern in der Baracke während des Überfalls auf das Camp haben sich als inhaltslos erwiesen.

Die kleineren Organisationen bekräftigen ihren Standpunkt, dass es ein Recht auf bewaffneten Widerstand gibt, für Völker, deren Land bedroht, geraubt und zerstört wird. Ein Teil dieser Gruppen sieht diesen Widerstand als inspirierendes Beispiel für alle unterdrückten Völker in der Welt. Obwohl es keine Aussicht gibt, dass dieser Kampf erfolgreich sein wird, könnte eine partielle Schwächung der bewaffneten Sicherheitsfirma zu einem moralischen Erfolg führen, der den Mut aller Unterdrückten befeuern kann.

Die Mehrheit der Gesellschaft wird auf öffentlichen Kanälen von der Grausamkeit der Tötung und Zerstörung des Urvolkes seitens der bewaffneten Sicherheitskräfte weitgehend verschont. Die kleineren Organisationen versuchen stattdessen, durch Kulturbeiträge und Kongresse auf die Geschichte des Urvolkes und seine Unterdrückung durch diese Holz- und Papierfirma einzugehen. Sie erklären, wie diese Firma ganz eigene egoistische Ziele verfolgt und dass die angeblichen kulturellen Ziele nur eine Rauchwolke sind, um das eigentliche Ziel des Landraubes und der Vertreibung des Urvolkes zu verstecken.

Während die Mehrheit der Gesellschaft aufgrund ihrer Ignoranz der Ereignisse eher eine passive Haltung zu diesem Konflikt annimmt, verfolgen die Vertreter der Zivilgesellschaft – Journalisten und Politiker, kleinbürgerliche Opportunisten – die Mitglieder der kleineren Organisationen. Ihre Organisationen werden geschlossen. Ihre Veranstaltungen werden verboten. Künstler, Journalisten und Wissenschaftler, die mit der Causa des Urvolkes sympathisieren, werden entlassen und zensiert. Schulen in ärmeren Bezirken, die ihre Solidarität mit dem Urvolk bekunden und sagen, dass die Verfolgung des Urvolkes nicht in ihrem Namen geführt wird, werden des Verrats beschuldigt. Den kleineren Organisationen wird vorgeworfen, sie seien gegen die Kultur, die Ausbildung und gegen ein billiges Schulsystem. Mit ihren Aktionen unterstützen sie außerdem die Rituale des Urvolkes, inklusive des Kannibalismus.

Jetzt bist Du dran: Wie geht es weiter?

Auseinandersetzungen dieser Art haben auf allen Kontinenten stattgefunden und führen oft zu tragischen Konsequenzen für indigene Völker. Hier sind einige Beispiele:

  • Indigene Völker im Amazonas-Regenwald (Südamerika)
  • Standing Rock Sioux und Dakota Access Pipeline (Nordamerika)
  • Kolonialisierung des Gebiets der Aborigines in Australien
  • Maasai in Afrika

Findest du auch andere Beispiele?

Falls ein solcher Fall – wie oben in der Erzählung dargestellt – in deinem Land stattfindet, auf wessen Seite stehst du? Warum?

Falls die Regierung in deinem Land es als Staatsraison erklärt, auf der Seite der Holz- und Papierfirma zu stehen und die kleineren Organisationen in deinem Land zu verfolgen, auf wessen Seite stehst du dann?

Ohne die Worte ‘richtig’ oder ‘falsch’, ‘gut’ oder ‘böse’, ‘gerecht’ oder ‘ungerecht’ zu benutzen, fasse deine Meinung zusammen und sende sie mir. Ich werde sie dann anonym veröffentlichen.

Verunglimpfende Beiträge werden ignoriert.

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